Neuer Artikel über den Bullenhai in Lateinamerika veröffentlicht

Der Bullenhai (Carcharhinus leucas; manchmal auch Stierhai oder Gemeiner Grundhai genannt) ist eine euryhaline Hai-Art, die zumeist in flachen, küstennahen Gewässern in Wassertiefen von 0-30 m vorkommt. Als Spitzenprädator ist diese Art für die Regulierung mariner Ökosysteme und Nahrungsnetze von enormer ökologischer Bedeutung. Seine osmoregulatorischen Fähigkeiten ermöglichen es dieser Art, auch in Gewässer mit niedrigem Salzgehalt und sogar in reines Süßwasser (0 ‰ Salzgehalt) vorzudringen. Insbesondere die juvenile Altersklasse wandert in Flussmündungen und damit assoziierte Flussysteme und Binnenseen ein, da diese die Aufzuchtgebiete darstellen, wo sie vor marinen Prädatoren (insbesondere anderen Hai-Arten) geschützt sind, die ihnen nicht in diese Lebensräume folgen können. Seine Eigenschaft, insbesondere küstennahe Lebensräume zu nutzen, macht den Bullenhai besonders empfindlich für Veränderungen von Lagunen, Buchten, Estuaren, natürlichen Flussystemen und Binnengewässern, so dass diese Art besonders von siedlungsbedingten Bauaktivitäten an der Küste betroffen ist. Gemeinsam mit dem nach wie vor anhaltenden hohen Fischereidruck hat dies dazu geführt, dass die Art heute weltweit gefährdet ist (IUCN Rote-Liste-Status “Vulnerable”).

Vor diesem Hintergund habe ich die Situation des Bullenhais in der lateinamerikanischen Region zusammen mit der mexikanischen Wissenschaftlerin Nadia Sandoval und dem US-amerikanischen Haiforscher Philip Matich genauer untersucht und herausgefunden, dass der Mangel an verfügbaren Daten und Informationen über wichtige essenzielle Lebensräume des Bullenhais ein großes Hindernis für Schutzbemühungen und Managementpläne darstellt. Auf Grund der knappen bis gar nicht verfügbaren finanziellen Mittel sind die meisten der lateinamerikanischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auf Daten aus der lokalen Fischerei angewiesen. Ein Ergebnis unserer Studie ist, dass wichtige Aufzuchtgebiete und Kinderstuben des Bullenhais mit Orten hohen Fischereidrucks überlappen, wie z.B. im Bereich der Amazonas-Mündung oder der mexikanischen Terminos-Lagune. Historische Aufzuchtgebiete von herausragender Bedeutung für den Bullenhai in der lateinamerikanischen Region wie der Nicaraguasee und auch der Izabal-See wurden bereits in den 1970/1980er Jahren leergefischt, wobei sich die Populationen bis heute nicht von den verheerenden Auswirkungen der Überfischung und nicht nachhaltigen Fischerei erholt haben. Diese ehemaligen Aufzuchtgebiete, die für die Bullenhai-Population in der karibischen Region (die eine eigenständige genetische Linie darstellt) so wichtig waren, sind heute nicht untersucht, ungeschützt und nicht länger im Fokus von Wissenschaft und Naturschutz. Die Aufmerksamkeit wieder auf diese Gebiete zu lenken war einer der Gründe, die uns bewegt haben, diesen Aufsatz zu verfassen.

Anhand von sieben ausgewählten Gebieten haben wir die Situation des Bullenhais in der lateinamerikanischen Region genauer dargestellt, wobei diese sieben Gebiete repräsentativ sowohl für viele andere Gebiete in Lateinamerika als auch für Regionen anderswo auf der Welt sein dürften. Um die Datenlage zu verbessern und damit die Schutzbemühungen für den Bullenhai zu verbessern haben wir wichtige Forschungsfragen formuliert, deren Beantwortung wichtig für den erfolgreichen Schutz des Bullenhais in Lateinamerika sind. Für die Beantwortung dieser Fragen haben wir ebenfalls einfache und relativ kostengünstige Untersuchungsmethoden vorgestellt, deren Anwendung dazu beitragen könnte, bestehende Kenntnisdefizite in Lateinamerika zu überwinden und dadurch Schutzbemühungen effektiver zu gestalten.

Peter Gausmann

Gausmann P, Matich P, Laurrabaquio-Alvarado NS (2025). Research goals of special concern for Carcharhinus leucas (Carcharhiniformes: Carcharhinidae) in Latin America – biological, distributional, and conservation priorities. Neotrop Ichthyol. 23(3):e250034. https://doi. org/10.1590/1982-0224-2025-0034